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Werbeschlacht Das Rennen der Lieferdienste in den Ruin

Kopf an Kopf: Der Wettkampf zwischen Anbietern wie Deliveroo und Foodora erinnerte mitunter an die Tour de France (Montage)
Kopf an Kopf: Der Wettkampf zwischen Anbietern wie Deliveroo und Foodora erinnerte mitunter an die Tour de France (Montage)
© Foto: Patrick Arnoux/Paris Match / Getty Image
Fast ein Jahrzehnt rangen Start-ups um den deutschen Markt für Essenslieferdienste, verbrannten Hunderte Millionen Euro, bevor Lieferando siegte – und Delivery Hero sich aus Deutschland zurückzog. Nun kündigt sich eine Wiederauflage an

Es war der vielleicht epochalste Kampf der deutschen Start-up-Geschichte: Das Ringen der Essenslieferdienste in den 2010er Jahren um die Krone im deutschen Markt. Vor etwa zweieinhalb Jahren schien das Rennen entschieden – Lieferando, seit 2014 Teil der Takeaway-Gruppe, hatte sämtliche Konkurrenten aus dem Markt gedrängt, inklusive dem Berliner Unternehmen Delivery Hero, das sein Deutschlandgeschäft für knapp 1 Mrd. Euro an Takeaway veräußerte. Nun will Delivery Hero, inzwischen Dax-Konzern, seinen Heimatmarkt zurückerobern. Unter der Marke Foodpanda sollen ab Juni zunächst in Berlin Restaurantessen und Lebensmittel ausgeliefert werden. Die wechselvolle und vor allem teure Geschichte der deutschen Lieferdienstbranche hat Capital Anfang 2020 rekonstruiert.

Das Schlachtfeld hat sich geleert, man spürt es. Vom legebatterieähnlichen Gedränge anderer Berliner Start-ups ist bei Delivery Hero wenig zu spüren. In den Großraumbüros hinter der Berliner Museumsinsel kommt man immer wieder an unbesetzten Schreibtischen vorbei. Den Freiraum verdanken die Mitarbeiter einer radikalen unternehmerischen Entscheidung: Vor einem Jahr verkaufte Delivery Hero sein komplettes Deutschlandgeschäft für 930 Mio. Euro an den Konkurrenten Lieferando – und reduzierte seine Berliner Belegschaft damit von 1900 auf 1200 Mitarbeiter.

Es war das spektakuläre Ende einer jahrelangen Auseinandersetzung um den deutschen Markt für Essenslieferdienste, bei der Delivery Hero nicht zu den Gewinnern zählte. Emmanuel Thomassin wäre nicht der CFO des Unternehmens, wenn er sich Enttäuschung anmerken ließe. Er empfängt in einem verglasten Konferenzraum, ein zugänglicher Typ, der mit ehrlicher Leidenschaft über das Liefergeschäft spricht.

Ja, der Rückzug sei keine einfache Entscheidung gewesen, sagt Thomassin. Es gebe „eine gewisse Bindung zu Deutschland“ – schließlich wurde das Unternehmen hier gegründet, ging hier an die Börse und steuert von hier noch immer das Geschäft in den mehr als 40 verbliebenen Märkten. „Aber wir müssen bei jeder Transaktion rational sein“, sagt Thomassin – und Deutschland sei einfach „kein guter Markt für Food“.

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Es ist eine späte Erkenntnis. Fast ein Jahrzehnt lang stritt sich Delivery Hero mit seinen Rivalen um den deutschen Markt, ein Kampf, der die Kombattanten derart aufrieb, dass am Ende nur einer übrig blieb.

Dass sich Start-ups mit sehr ähnlichen Geschäftsmodellen um einen gerade entstehenden Markt streiten, hat die Szene im vergangenen Jahrzehnt mehrfach erlebt. Gutscheinportale, Kochboxen, Putzkräfte oder E-Tretroller – immer wieder stürzten sich Gründer ins Gefecht um neue Hypes.

Doch um kein Segment wurde so erbittert, so ausgiebig und kostenintensiv gerungen wie um das Geschäft mit dem Ausliefern von Essen. Seit 2010 haben die drei wichtigsten Player in Deutschland allein für Fernseh-, Netz- und Plakatwerbung mehr als eine drei viertel Milliarde Euro ausgegeben, wie die Marktforscher von Nielsen für Capital berechnet haben.

Es war eine ruinöse Schlacht, die kaum Gewinner, aber viele Verlierer hervorbrachte. Profitiert haben Gründer und Investoren, die ihre Unternehmen bei einem der vielen Deals losschlagen konnten. Und natürlich Lieferando, der letzte überlebende Anbieter. Verloren aber haben die Kunden, die für weniger Auswahl in Zukunft mehr bezahlen dürften; und die Gastronomen, denen ein Monopolist nun Konditionen und Gebühren diktieren kann. Der Inhaber eines Burgerlokals, der sich mit Lieferando bereits über steigende Provisionen gestritten hat und daher lieber ungenannt bleiben will, sagt: „Die können jetzt machen, was sie wollen. Wir sind auf sie angewiesen, zehn bis 15 Prozent des Umsatzes hängen davon ab.“ Vor nicht allzu langer Zeit hatte er noch drei Lieferdienste zur Auswahl, die ihn mit immer niedrigeren Provisionen umwarben.

Die Lieferdienstschlacht ist daher auch ein Lehrstück, das vorführt, wie die digitale Disruption bisweilen selbst ihre grundlegendsten Versprechen nicht einlöst, nämlich dass alles billiger, bequemer, besser wird. Befeuert durch fast unbegrenztes Risikokapital, kann sie stattdessen zu sinnlosen Start-up-Stellungskriegen führen.

Last Man Standing

Der last man standing des Konflikts ist ein schneidiger Holländer mit Gewinnerlächeln: Jitse Groen, Gründer der Amsterdamer Takeaway-Gruppe, zu der seit 2014 Lieferando gehört – und nun auch die bisherigen Delivery-Hero-Marken Lieferheld, Foodora und Pizza.de. Man trifft ihn in einem gedrängten Dachgeschossbüro unweit des Potsdamer Platzes in Berlin. Groen sagt: „Ich hatte 30 Wettbewerber in Holland, 30 oder 40 in Deutschland, die sind alle weg. Es ist kein einfaches Geschäft.“

Groen muss es wissen, er ist seit 20 Jahren dabei. Im Jahr 2000 entwickelt er in Holland die Idee, Lieferdienste ins Netz zu bringen. Das Essen fahren die Anbieter weiter selbst aus, aber für eine Provision verschafft Groen ihnen Bestellungen übers Netz statt nur per Telefon. Der Anfang ist mühsam. Die ersten 700 Restaurants klappert er noch selbst ab, Geld von Investoren ist kurz nach dem Dotcom-Crash nicht zu bekommen. Es dauert, aber Groen setzt sich durch. 2008 entscheidet er sich zur Expansion ins große Nachbarland.

Der junge deutsche Markt wird damals von Pizza.de dominiert, einer Braunschweiger Firma, die aus einer Web-Agentur für Fast-Food-Ketten hervorgegangen ist. Bei Pizza.de denkt man nicht wie ein Start-up, eher träge, wenig angriffslustig, aber weil die Internetadresse so einprägsam ist, gehört den Braunschweigern der deutsche Markt. Fürs Erste.

Groen nennt seine deutsche Tochter Lieferservice.de – und merkt schnell, dass das Geschäft hier eine andere Nummer ist. „Deutschland war ein viel größeres Land, wir hatten keine Markenbekanntheit und kein Marketingbudget.“

Das Schlachtfeld füllt sich

Währenddessen entsteht in Berlin eine neue Gründerszene. Das Schlachtfeld füllt sich. Der nächste Kombattant heißt Lieferando: drei junge Typen mit wilden Frisuren, die mit wenig Respekt und viel Kapital in die Branche drängen. Zu den Geldgebern, vor denen die Gründer pitchen, gehört auch der Inkubator Team Europe, damals ein ernst zu nehmender Konkurrent von Rocket Internet. Dort findet man das Konzept super – aber statt zu investieren, setzt man die Idee lieber selbst um: Mit Lieferheld tritt ein vierter Wettbewerber auf den Plan.

Knallhartes Rennen: Manchen Wettbewerber trug es beim Kampf um den deutschen Essensliefermarkt aus der Kurve (Montage)
Knallhartes Rennen: Manchen Wettbewerber trug es beim Kampf um den deutschen Essensliefermarkt aus der Kurve (Foto: Keystone-France/Gamma-Keystone via Getty Images; Montage: Enrico Nagel)
© Foto: Keystone-France/Gamma-Keystone / Getty Image

Schmutzige Tricks sind in der Anfangszeit an der Tagesordnung. Lieferheld und Lieferando fleddern skrupellos die Website von Pizza.de, indem sie Hunderte von Restaurantadressen und die dazugehörigen Menüs kopieren. Gegen Lieferheld-Manager verhängt die Berliner Staatsanwaltschaft dafür sogar einen Strafbefehl. Als bei Lieferando nach Hackerattacken die Server in die Knie gehen, wird das Gerücht gestreut, der Konkurrent Lieferheld stecke dahinter. Die Staatsanwaltschaft schenkt dem zunächst Glauben und lässt bei Lieferheld Computer beschlagnahmen, bevor sich die Vorwürfe als haltlos herausstellen. Die Revanche lässt nicht lange auf sich warten: Als Lieferando testweise TV-Spots ausstrahlt, kriegt die Marketingabteilung von Lieferheld das spitz und schaltet eigene Spots in denselben Werbeblöcken, um die Testergebnisse zu verzerren.

Bald geht es um größere Fragen: Wer kann wie viel Geld für Marketing organisieren, wer kann sich Wachstum über Zukäufe sichern? Die Zeit der Dealmaker beginnt. Einer der begabtesten im Markt ist ein Schwede: Niklas Östberg, ein nach außen äußerst höflicher Ingenieur, der in Skandinavien ein kleines Lieferdienstimperium aufgebaut hat. Team Europe, der Inkubator hinter Lieferheld, zahlt 70 Mio. Euro für das schwedische Unternehmen, fusioniert es mit dem eigenen Dienst und macht Östberg zum CEO der neu geformten Delivery-Hero-Gruppe.

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Östberg ist nun Groens wichtigster Gegenspieler, ein Schwede und ein Holländer ringen um den deutschen Markt. Zwei unternehmerische Philosophien stehen sich gegenüber: Groen, der konservativ kalkuliert und dessen Firma organisch gewachsen ist, bis sie 2012 erstmals Geld aufnimmt, um in Deutschland zu starten; und Östberg, der von Anfang an darauf setzt, mit Übernahmen weltweit zu expandieren und die Marktführerschaft notfalls mit Geld zu erzwingen. Mit den 1,4 Mrd. Dollar, die Investoren bis 2015 in sein Start-up stecken, macht Östberg allein in jenem und dem vorhergehenden Jahr 17 Deals. Für den türkischen Marktführer Yemeksepeti zahlt er unfassbare 530 Mio. Euro.

In Deutschland setzt derweil eine erste Konsolidierungswelle ein. Keinem der drei Angreifer – Lieferando, Lieferheld und Groens Lieferservice.de – ist es gelungen, Pizza.de die Führungsposition streitig zu machen. Selbst vom vierten auf den dritten Platz vorzustoßen erweist sich als schwierig. „2014 wuchsen wir mit immerhin 80 Prozent pro Jahr“, erinnert sich Groen. „Das einzige Problem war: Lieferando wuchs auch mit 80 Prozent. Und du kannst kein Unternehmen überholen, das mit der gleichen Geschwindigkeit wächst und dreimal so groß ist.“

Die Lösung: Fusionen. In Berlin steuert 2014 alles auf ein Zusammengehen von Lieferheld und Lieferando hin. Die Gründer haben bereits vereinbart, wer welche Abteilungen mit in die neue Firma einbringt, sogar Sitzpläne für das gemeinsame Büro erstellt. Doch wenige Stunden vor dem Notartermin sagt die Lieferando-Seite den Deal ab. Sie hat parallel mit Groen verhandelt – und sich am Ende für dessen Angebot entschieden. 50 Mio. Euro zahlt der Niederländer, der Lieferando zur Marke seines gesamten Deutschlandgeschäfts macht und so die Nummer zwei wird. Nur wenige Monate später schluckt Delivery Hero dafür Pizza.de, für 240 Mio. Euro. Östberg hat sich gerächt – und an die Spitze geschoben.

Einsamer Sieger: Fast ein Jahrzehnt lang dauerte die Verfolgungsjagd, bis am Ende Lieferando alles abräumte (Montage)
Einsamer Sieger: Fast ein Jahrzehnt lang dauerte die Verfolgungsjagd, bis am Ende Lieferando alles abräumte (Foto: Witters; Montage: Enrico Nagel)
© Foto: Witter

Eigentlich hätte das Rennen hier vorbei sein können. Doch unerwartet ändern sich die Gesetze des Markts. In London testet 2014 ein neues Start-up namens Deliveroo einen Lieferdienst 2.0: Es beschäftigt Fahrradkuriere, die für Gastronomen ohne eigene Lieferflotte Gerichte ausfahren. Damit lassen sich exklusivere Restaurants gewinnen – und kaufkräftigere Kunden. Statt zehn bis 15 Prozent Provision wie beim Plattformgeschäft der alten Dienste kassieren die Flotten-Start-ups 25 bis 30 Prozent. Es fällt ihnen allerdings nicht leicht, ihre Fahrer auch abseits der Nachfragespitzen zur Mittagszeit und am Sonntagabend auszulasten. Profitabel lässt sich das Modell nur in wenigen, dicht besiedelten Gebieten betreiben, wie sich später zeigt.

In Deutschland wird es trotzdem nachgeahmt: Rocket Internet schickt 2015 sein Start-up Foodora ins Rennen um das neue Segment. Zeitgleich expandiert Deliveroo nach Deutschland. Zwei neue Player verschieben die Kriegsfronten. Erneut bekämpft man sich mit Marketingmillionen. Als sich Rocket 2015 bei Delivery Hero einkauft, wandert Foodora in Östbergs Reich. Der Schwede hat inklusive Pizza.de und Lieferheld nun drei Marken am Start. Sie verfügen über jeweils eigene Werbebudgets, aber abgesehen vom Premiumdienst Foodora sind sie kaum unterscheidbar – ein strategischer Fehler. „Es wurde versäumt, die Marken unterschiedlich zu positionieren – oder zusammenzulegen“, moniert ein Insider. Das wird zum Problem.

Jitse Groen steigt ebenfalls ins Kuriergeschäft ein, aber anders als Östberg ordnet er alles seiner Marke Lieferando unter – und dem Deutschlandgeschäft, das nach wie vor seine große Wette ist, das mit Abstand wichtigste Land im Portfolio, in das er auch den Großteil der Erlöse aus seinem Börsengang von 2016 investiert. Delivery Hero hingegen expandiert wild – und scheint dabei den Heimatmarkt aus dem Blick zu verlieren, wo das Unternehmen Anteile einbüßt. „Es gibt bei Weitem attraktivere Märkte“, sagt CFO Emmanuel Thomassin heute. Das stimmt: Im Vergleich bestellen die Deutschen eher wenig – noch. Groen aber setzt darauf, dass sich das ändern wird.

Der Kampf geht weiter

Hinter den Kulissen sprechen die Gründer immer wieder über einen Friedensvertrag. Trotzdem dauert der zermürbende Kampf um Deutschland noch bis Ende 2018. Dann ist es so weit: Groen darf Pizza.de, Lieferheld und Foodora übernehmen. Als sich im Sommer 2019 aus Enttäuschung über die Ergebnisse im deutschen Markt auch das britische Deliveroo zurückzieht, bleibt Groen ganz allein zurück.

Ohne Konkurrenten kann er endlich am Marketing sparen. Für ein nach Bestellungen doppelt so großes Business gibt Groen 2019 nur 14 Prozent mehr für Werbung aus. Das Ergebnis: Im dritten Quartal gelingt ihm in Deutschland nach mehr als einem Jahrzehnt erstmals ein positives Ebitda. Einen Verlustbringer schleppt er aber weiter mit sich: das Geschäft mit den eigenen Fahrern. „Wir haben es nie hinbekommen, damit Geld zu verdienen“, gibt Groen zu. Trotzdem will er es behalten – weil es bei Kunden beliebt ist und derzeit nur fünf Prozent der Bestellungen betrifft.

Doch es ist nicht unwahrscheinlich, dass Groen diese Linie irgendwann verlässt. Zumal seine Takeaway-Gruppe gerade an einer Fusion mit dem britischen Wettbewerber Just Eat bastelt und den Fokus nach der endlich gewonnenen Schlacht um Deutschland dann auch auf andere Märkte legen dürfte. Denn global ist das Rennen noch offen. In Südkorea, dem viertgrößten Liefermarkt der Welt, übernimmt Delivery Hero gerade den Marktführer für 4 Mrd. Dollar. Die Lieferdienstschlacht ist nicht vorbei – sie hat sich nur verlagert.

Der Beitrag ist in Capital 02/2020 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop, wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es beiiTunesund GooglePlay

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